Der Berliner Verfassungsschutz hat noch im Juni 2012 mehrere Akten im Bereich Rechtsextremismus schreddern lassen – trotz der auf Hochtouren laufenden Aufarbeitung der NSU-Mordserie. Es ist nicht die erste Panne im Haus von Innensenator Henkel. Der spricht von “menschlichem Versagen”.
Berlin – Der Berliner Verfassungsschutz hat Akten geschreddert, die möglicherweise für den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags von Interesse gewesen wären. Das bestätigten mehrere Berliner Abgeordnete SPIEGEL ONLINE am Dienstag. Am Nachmittag wurden die Mitglieder des Verfassungsschutzausschusses im Abgeordnetenhaus über den Vorfall informiert.
Den Angaben zufolge wurden am 29. Juni dieses Jahres mehrere Rechtsextremismus-Akten vernichtet. Es handelt sich um 25 Aktenordner, die unter anderem Informationen über den einstigen Terroristen der Rote Armee Fraktion und heutigen Rechtsextremisten Horst Mahler, die sogenannte Reichsbürgerbewegung, die Band Landser, die Heimattreue Deutsche Jugend und die Initiative für Volksaufklärung enthalten.
Generell ist die Vernichtung von Akten ein normaler Vorgang, sie unterliegen einer Löschfrist. Wenn diese als nicht mehr relevant eingeschätzt werden, müssen sie nach einer gewissen Zeit sogar vernichtet werden. Allerdings bietet man regulär dem Landesarchiv an, Altakten zu Dokumentationszwecken aufzubewahren. Das Berliner Landesarchiv hatte jene 25 Ordner mit rechtsextremistischem Bezug Ende September vergangenen Jahres als relevant erachtet und angefordert.
Doch die Dokumente wurden nie in das Archiv überführt. “Aufgrund eines Missverständnisses wurden auch die für das Landesarchiv bestimmten Akten zur Vernichtung ausgeheftet” und zum Schreddern geschickt, heißt es in einem Bericht des Berliner Verfassungschutzes.
“Unerfreulicher Vorgang”
“Es gibt keine Anhaltspunkte, dass die Akten irgendeinen NSU-Bezug hatten”, sagte eine Sprecherin der Behörde. Der Vorfall sei nach Bekanntwerden sofort hausintern aufgearbeitet worden. Doch im Zuge der Aufklärung der NSU-Morde bekommt dieser Vorgang nun eine besondere Brisanz. Auch der Zeitpunkt der Vernichtung ist pikant – Ende Juni lief die Aufarbeitung der NSU-Mordserie längst auf Hochtouren.
Nur wenige Wochen später wurde zudem in Berlin per Erlass der Verfassungsschutzleiterin Claudia Schmid angeordnet, es sollten bis auf weiteres gar keine Akten mit rechtsextremistischem Bezug mehr vernichtet werden, um die höchstmögliche Aufklärung der NSU-Mordserie zu gewährleisten. Doch da war es für besagte Akten schon zu spät.
Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) spricht von einem “menschlichen Versagen”. “Es war mir wichtig, dass der NSU-Untersuchungsausschuss und die Verfassungsschutzexperten aus dem Berliner Abgeordnetenhaus schnell informiert werden”, sagte er SPIEGEL ONLINE am Dienstag. “Nach jetzigem Erkenntnisstand liegt kein NSU-Bezug vor”, betonte er. “Trotzdem lässt dieser unerfreuliche Vorgang Fragen offen, die jetzt schnell aufgearbeitet werden müssen”, fügte er hinzu. Henkel versprach, den zuständigen Sonderermittler Dirk Feuerberg mit der Aufklärung der Panne zu betrauen. “Zudem ist der Verfassungsschutz in der Pflicht, alles zu versuchen, um diese Akten in Abstimmung mit anderen Behörden zu rekonstruieren.”
Empörte Opposition
In der Vergangenheit hatte die Aktenvernichtung bei Verfassungsschutzbehörden mehrfach für Schlagzeilen gesorgt. Neben dem Präsidenten des Bundesamts, Heinz Fromm, mussten auch mehrere Landesamtschefs ihren Posten räumen.
Auch Henkel selbst war wegen Ungereimtheiten in der NSU-Affäre unter Druck geraten. Mitte September war bekannt geworden, dass ein mutmaßlicher NSU-Helfer mehr als ein Jahrzehnt als Informant mit der Berliner Polizei zusammengearbeitet und ab 2002 zumindest indirekte Hinweise auf den Aufenthaltsort der Rechtsterroristen gegeben hat. Zudem hatte er eingeräumt, dem Trio Sprengstoff besorgt zu haben.
Nach eigenen Angaben wusste Henkel davon seit März – hatte aber nur die Bundesanwaltschaft, nicht jedoch den Untersuchungsausschuss des Bundestags und das Abgeordnetenhaus informiert. Als Grund gab er eine Absprache mit der Bundesanwaltschaft an, die das aber bestreitet.
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06. November 2012, 19:05 Uhr
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