Georg Restle: „Die Krise in der Ukraine ist noch lange nicht vorbei. Dies haben uns die Bilder aus dem Osten des Landes von dieser Woche gelehrt. Und auch die Propagandaschlacht geht weiter. Eine der zentralen Fragen ist dabei, wer ist verantwortlich für das Blutbad, dem im Februar Dutzende Demonstranten und Polizisten zum Opfer fielen, und das schließlich zum Sturz des Präsidenten Janukowitsch führte? Wer also waren die Todesschützen auf dem Kiewer Maidan? Die vom Westen unterstützte Übergangsregierung hat sich letzte Woche festgelegt: Präsident Janukowitsch und seine Sonderkommandos tragen demnach allein die Schuld für die Toten. Doch an dieser Version gibt es jetzt erhebliche Zweifel, wie die Recherchen von Philipp Jahn, Olga Sviridenko und Stephan Stuchlik zeigen.”
Was geschah am 20. Februar 2014 in Kiew? Aufgeheizte Stimmung, aus den ursprünglich friedlichen Demonstrationen ist ein Bürgerkrieg geworden. Teile der Demonstranten haben sich bewaffnet, rücken in Richtung Regierungsgebäude vor. In einzelnen Trupps versuchen die Demonstranten, auf die Instituts-Straße zu gelangen. Der blutige Donnerstag: Einzeln werden Demonstranten erschossen, viele von den Dächern umliegender Gebäude. Aber wer genau waren diese Scharfschützen, die auf die Demonstranten schossen?
Diese Frage beschäftigt die Kiewer bis heute, zu Hunderten kommen sie täglich an den Platz des Massakers.
Als wir ankommen, sechs Wochen danach, ist anscheinend noch nicht einmal die grundsätzliche Beweisaufnahme abgeschlossen. Sergeij, ein Waffenexperte, ist einer der vielen unabhängigen Ermittler, die eng mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten und die Ermittlungen in Gang halten. Vor unseren Augen sichert er noch Patronenhülsen. Danach alarmiert er die staatlichen Ermittler, die den Ort nach eigener Aussage schon gründlich untersucht haben. Erstaunlich, während sie noch arbeiten, hat sich ihre vorgesetzte Behörde in einer Pressekonferenz schon festgelegt, wer die Schuldigen sind.
Oleg Machnitzki, Generalstaatsanwalt Ukraine (Übersetzung MONITOR): „Mit dem heutigen Tag klagt die Staatsanwaltschaft 12 Mitglieder der Spezialeinheit Berkut des Mordes an friedlichen Demonstranten an. Der damalige Präsident Janukowitsch befehligte direkt diese Spezialeinheit Berkut.“
Die neue Regierung sagt also, die alte Regierung Janukowitsch wäre für das Blutbad verantwortlich.
Doch was geschah wirklich am 20 Februar? Fest steht, die Demonstranten rückten auf der Institutsstraße Richtung Regierungsgebäude vor. Von gegenüber gerieten sie unter Feuer, vom Dach des Ministerkabinetts, der Zentralbank und weiteren Regierungsgebäuden. Doch schon früh gab es Hinweise, dass sie auch im Rücken getroffen wurden, von ihrer eigenen Zentrale aus, vom Hotel Ukraina.
Aber welche Beweise gibt es dafür? Zum einen ist da dieses Video, das augenscheinlich beweist, dass der Oppositionelle mit dem Metallschild von hinten getroffen wird. Der Mann in Gelb auf dieser Aufnahme geht sogar noch weiter. Er gehörte zu den Demonstranten, war an diesem Tag stundenlang auf der Institutsstraße. Er heißt Mikola, wir treffen uns mit ihm am Ort des Geschehens. Er sagt uns, es wurde sogar mehrfach in den Rücken der Opposition geschossen.
Mikola (Übersetzung MONITOR): „Ja, am zwanzigsten wurden wir von hinten beschossen, vom Hotel Ukraina, vom 8. oder 9. Stock aus.“
Reporterin (Übersetzung MONITOR): „Von der achten oder neunten Etage?“
Mikola (Übersetzung MONITOR): „Ja, auf jeden Fall fast von ganz oben.“
Reporterin (Übersetzung MONITOR): „Von da oben?“
Mikola (Übersetzung MONITOR): „Ja, da standen Leute oben und haben geschossen und aus der anderen Richtung hier wurden wir auch beschossen.“
Reporter (Übersetzung MONITOR): „Und wer hat von oben geschossen?“
Mikola (Übersetzung MONITOR): „Das weiß ich nicht.“
Reporterin (Übersetzung MONITOR): „Haben Sie eine Ahnung?“
Mikola (Übersetzung MONITOR): „Das waren Söldner, auf jeden Fall Profis.“
Das Ukraina-Hotel hier war das damalige Zentrum der Demonstranten. Hat sich der Augenzeuge geirrt? Wir sind nachts unterwegs mit Ermittler Sergej. Er zeigt uns mit einem Laser, dass es nicht nur Schusskanäle aus Richtung der Regierungsgebäude gibt. Einige Kanäle in den Bäumen deuten in die entgegengesetzte Richtung, wenn man durch Austrittsloch und Einschussloch leuchtet, oben ins Hotel Ukraina, damals die Zentrale der Opposition. Das aber passt schlecht zur Version des Generalstaatsanwalts, der uns nach Tagen Überzeugungsarbeit endlich empfängt. Er ist von der neuen Regierung eingesetzt, gehört dem rechtsnationalen Flügel der damaligen Opposition an, der umstrittenen Svobóda-Partei.
Oleg Machnitzki, Generalstaatsanwalt, Ukraine (Übersetzung MONITOR): „Wir können wirklich heute schon sagen, nach allen Beweismitteln und Expertisen, die wir in der Hand haben, wer prinzipiell Schuld an den Sniper-Attacken ist: der damalige Präsident Viktor Janukowitsch, der ehemalige Verwaltungschef und der ehemalige Innenminister Sacharchenko.“
Reporter (Übersetzung MONITOR): „Sie wissen auch, dass es Sniper vom Hotel Ukraina gab?“
Oleg Machnitzki, Generalstaatsanwalt, Ukraine (Übersetzung MONITOR): „Wir untersuchen das.“
Die Scharfschützen also alles Janukowitsch-Leute? Es gibt noch weitere Beweise, die diese These in Frage stellen. Wir treffen uns mit einem Radio-Amateur, der an diesem Tag aufgezeichnet hat, wie sich Janukowitsch-Scharfschützen untereinander unterhalten. Ihr Funkverkehr beweist: Da schießt jemand auf Unbewaffnete, jemand den sie nicht kennen.
1. Scharfschütze (Übersetzung MONITOR): „He, Leute, ihr da drüben, rechts vom Hotel Ukraina.“
2. Scharfschütze (Übersetzung MONITOR): „Wer hat da geschossen? Unsere Leute schießen nicht auf Unbewaffnete.“
1. Scharfschütze (Übersetzung MONITOR): „Jungs, da sitzt ein Spotter, der zielt auf mich. Auf wen zielt der von der Ecke. Guckt mal!“
2. Scharfschütze (Übersetzung MONITOR): „Auf dem Dach vom gelben Gebäude. Auf dem Kino, auf dem Kino.“
1. Scharfschütze (Übersetzung MONITOR): „Den hat jemand erschossen. Aber nicht wir.“
2. Scharfschütze (Übersetzung MONITOR): „Miron, Miron, gibt es da noch mehr Scharfschützen? Und wer sind die?“
Wir halten fest: Es gab neben den Regierungs-Scharfschützen also noch andere unbekannte Schützen, die auf unbewaffnete Demonstranten geschossen haben. Und, wer immer vom Hotel Ukraina schießt, hat – so legt dieses Video nahe – auch diese Milizionäre getroffen. Dass Janukowitsch auf die eigenen Leute hat schießen lassen, ist unwahrscheinlich.
Gab es also Scharfschützen der damaligen Opposition? Fest steht, es gab neben den vielen friedlichen Demonstranten durchaus eine Gruppe Radikaler mit professionellen Waffen, wie diese Aufnahmen zeigen.
Und, das Hotel am Morgen des 20. Februar war fest in der Hand der Opposition. Wir sprechen mit Augenzeugen aus dem Hotel Ukraina, Journalisten, Oppositionelle. Sie alle bestätigen uns, am 20. Februar war das Hotel von der Opposition schwer bewacht. Es hätte sich also schwerlich ein Scharfschütze der Regierung einschleichen können.
Haben also radikale Oppositionelle am Ende selbst geschossen, um Chaos zu erzeugen? Um Janukowitsch die Schuld anzuhängen? Die russischen Fernsehsender verbreiten Bilder, auf denen genau das zu sehen sein soll. Unsere Recherchen bestätigen, dass die Aufnahmen tatsächlich im Hotel Ukraina gemacht wurden. Aber wer da genau auf wen schießt, lässt sich nicht endgültig klären.
Fest steht nur, es wurde nicht nur auf Oppositionelle, sondern auch auf die Milizen der Regierung geschossen. Vielleicht sogar von denselben Leuten? Wir treffen einen der wenigen Ärzte, der die Verwundeten beider Seiten versorgt hat.
Oleksandr Lisowoi, Krankenhaus Nr. 6, Kiew (Übersetzung MONITOR): „Die Verwundeten, die wir behandelt haben, hatten denselben Typ Schussverletzungen, ich spreche jetzt von dem Typ Kugeln, die wir aus den Körpern herausoperiert haben, die waren identisch. Mehr kann ich nicht sagen.“
Reporterin (Übersetzung MONITOR): „Aber die haben Sie…“
Oleksandr Lisowoi, Krankenhaus Nr. 6, Kiew (Übersetzung MONITOR): „Bei der Miliz und bei der Opposition gefunden.“
Warum geht die Staatsanwaltschaft solchen Fragen nicht nach? Der deutsche Außenminister und die Europäische Union haben bereits im Februar per Abkommen festgestellt, dass die Schuldfrage in der Ukraine ein politisch zentrales Thema sei, die Aufarbeitung sollte „ergebnisoffen“ sein, um das Vertrauen in die neue ukrainische Regierung zu stärken. Doch mittlerweile mehren sich die Zweifel, ob wirklich sachgerecht ermittelt wird, auch bei den eigenen Mitarbeitern. Wir sprechen mit einem hochrangigen Mitglied der Ermittlungskommission. Er erzählt uns Unglaubliches.
Zitat: „Das, was mir an Ergebnissen meiner Untersuchung vorliegt, stimmt nicht mit dem überein, was die Staatsanwaltschaft erklärt.“
Wurden also Beweismittel unterdrückt oder sogar unterschlagen? Auch die Rechtsanwälte, die die Angehörigen der Toten vertreten, alle eigentlich auf Seiten der neuen Regierung, beklagen sich, dass sie überhaupt nicht darüber informiert werden, womit genau sich die Staatsanwaltschaft beschäftige.
Roman Titikalo, Anwalt der Nebenklage (Übersetzung MONITOR): „Wir haben nicht gesagt bekommen, welcher Typ Waffen, wir bekommen keinen Zugang zu den Gutachten, wir bekommen die Einsatzpläne nicht. Die anderen Ermittlungsdokumente haben wir auch nicht, die Staatsanwaltschaft zeigt uns einfach keine Papiere.“
Reporter (Übersetzung MONITOR): „Haben Sie ballistische Gutachten?“
Roman Titikalo, Anwalt der Nebenklage (Übersetzung MONITOR): „Nein.“
Reporter (Übersetzung MONITOR): „Rechtsmedizinische Gutachten?“
Roman Titikalo, Anwalt der Nebenklage (Übersetzung MONITOR): „Ich durfte in den Obduktionsbericht reingucken, aber nicht kopieren, ballistische Gutachten habe ich nicht bekommen.“
Ein Anwalt der Verletzten geht sogar noch weiter:
Oleksandr Baschuk, Anwalt der Geschädigten (Übersetzung MONITOR): „Wir kommen alle an keine Ermittlungsprotokolle ran und wenn Sie mich fragen, gibt es dafür einen einfachen Grund, es wird nicht richtig ermittelt. Ich als Anwalt der Verletzten sage Ihnen, die Staatsanwaltschaft ermittelt nicht richtig, die decken ihre Leute, die sind parteiisch, so wie früher. Die wollen wie in der Sowjetunion oder unter Janukowitsch alles unter der Decke halten, so ist das.“
Der blutige Donnerstag: Über 30 Menschen werden an diesem Tag in Kiew ermordet, ein Blutbad im Zentrum einer europäischen Großstadt. Unsere Recherchen zeigen, dass in Kiew schon Schuldige präsentiert werden, obwohl es auch zahlreiche Hinweise gibt, die in Richtung Opposition weisen. Spuren, die nicht verfolgt werden. Und möglicherweise gibt es auch noch andere Kräfte, die an den Schießereien beteiligt waren. Die Kiewer Generalstaatsanwaltschaft ist sich in ihrer Einschätzung sicher, wir sind es nicht.
Georg Restle: „Bei allen offenen Fragen, dass ein Vertreter der nationalistischen Svoboda-Partei als Generalstaatsanwalt die Aufklärung des Kiewer Blutbads ganz offensichtlich behindert, wirft ein schlechtes Bild auf die neue Übergangsregierung – und damit auch auf all jene westlichen Regierungen, die die neuen Machthaber in Kiew unterstützen.“
DasErste.de – Monitor –
15-4-2014
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