An einem einzigen Tag soll der britische Geheimdienst GCHQ Zugriff auf 21.600 Terabyte gehabt haben – wozu, weiß nicht einmal der BND. Sicher ist nur: Die Überwacher bekommen Hilfe von großen Telekommunikationskonzernen.
Das amerikanische Außenministerium hat vor Jahren einen kleinen Flecken in Ostfriesland auf eine Liste der weltweit schützenswürdigen Einrichtungen gesetzt. Ein Angriff auf das Städtchen Norden könnte angeblich die nationale Sicherheit der USA bedrohen. Sogar der Chef des US-Geheimdienstes NSA, General Keith B. Alexander, hat vor terroristischen Attacken gewarnt.
Norden ist ein heimliches Zentrum der neuen virtuellen Welt. Das TAT-14 (Trans Atlantic Telephone Cable No 14) ist am Hilgenrieder Siel bei Norden verbuddelt. Die meisten Internetverbindungen zwischen Deutschland und Amerika laufen dort durch mehrere Glasfaserleitungen; auch Frankreich, die Niederlande, Dänemark und Großbritannien sind durch TAT-14 miteinander verbunden. Etwa 50 internationale Telekommunikationsfirmen, darunter die Deutsche Telekom, betreiben ein eigenes Konsortium für dieses Kabel.
Manchmal fließen pro Sekunde Hunderte Gigabyte an Daten durch die Leitungen. Es ist ein gigantischer Datenrausch: Millionen Telefonate und E-Mails schießen durch das Netz. Auch deshalb hat der deutsche Verfassungsschutz stets nachgeschaut, ob in Norden alles in Ordnung ist. Keine Sabotage. Keine Terroristen. Kein Problem?
Für die über die “Seekabelendstelle” Norden, wie die offizielle Bezeichnung der Einrichtung lautet, vermittelten Daten hat sich offenbar der britische Geheimdienst Government Communications Headquarters (GCHQ) brennend interessiert. Aus Unterlagen des Whistleblowers Edward Snowden jedenfalls soll hervorgehen, dass die Briten im Rahmen der Operation “Tempora” die Daten abgegriffen haben. Es soll sich um unzählige Daten handeln, die aus Deutschland kamen oder nach Deutschland geschickt wurden.
Das ist nicht der Cyberkrieg, vor dem die amerikanische NSA immer gewarnt hat, sondern ein heimlicher umfassender Big-Data-Angriff auf die Bevölkerung eines befreundeten Landes. Die alte Formel: “Freund hört mit” umfasst das Problem nicht mal ungefähr. Großbritanniens Geheimdienst hat einen Lauschangriff auf Deutschland gestartet.
Die Menge der abgefangenen Daten ist noch Spekulation, und unklar ist auch, wo der Angriff genau erfolgt sein soll. Sicher nicht in Norden, das früher durch sein Seeheilbad bekannt wurde. Das würde sich kein Nachrichtendienstler trauen. Schon gar nicht in freundlicher Absicht.
Wahrscheinlich erfolgte der Angriff in dem kleinen Küstenstädtchen Bude im Südwesten Englands, das 858 Kilometer Luftlinie von Norden entfernt liegt. Dort macht das Kabel Zwischenstation – das Ende der Strecke ist New Jersey.
Dass ein britischer Geheimdienst auf diese Weise und so umfassend E-Mails deutscher Bürger abfängt oder Telefonate abhört, war vor Snowdens Enthüllungen für undenkbar gehalten worden. Der Bundesnachrichtendienst erklärt seit Tagen, dass er von den Aktivitäten der Amerikaner oder der Briten nichts wusste und selbst nur Zeitungswissen habe. Das klingt glaubhaft. Die beiden befreundeten Nationen, heißt es in Berlin, hätten offenbar ihr eigenes nationales Sicherheitsprogramm gefahren.
So viel Sicherheit war sicherlich nur mithilfe von Kommunikationsgesellschaften möglich. Angeblich sollen die beiden britischen Unternehmen Vodafone und British Telecommunications (BT) den Geheimen behilflich gewesen sein.
Jeder Eingriff, das erklärt eine Telekom-Sprecherin, müsste von dem internationalen Konsortium genehmigt werden, aber eine solche Genehmigung liegt nicht vor. Ein Sprecher der britischen Vodafone erklärte auf Anfrage, dass sich das Unternehmen an die Gesetze in den jeweiligen Ländern halte und Angelegenheiten, die mit der nationalen Sicherheit zusammenhingen, nicht kommentiere. Diese Formel klingt in diesen Tagen sehr vertraut.
Rechtsgrundlage für die Aktion “Tempora” ist ein sehr weit gefasstes Gesetz aus dem Jahr 2000. Danach kann die Kommunikation mit dem Ausland abgefangen und gespeichert werden. Die privaten Betreiber der Datenkabel, die beim Abhören mitmachen, sind zum Stillschweigen verpflichtet.
Nordengate macht klar, wie unterschiedlich Gesetze und Regeln in dieser Welt angewandt werden, es symbolisiert aber auch den Wandel der Geheimdienstarbeit. Ganz früher haben Nachrichtendienste Telefonate über relativ simple Horchposten abgehört. Glasfaserleitungen stellten die Dienste vor neue Herausforderungen. Telefonate werden seitdem in optische Signale umgewandelt. Da die Leitungen vor allem am Meeresboden verlaufen, gerieten Nachrichtendienste für kurze Zeit an ihre Grenzen.
Bereits um die Jahrtausendwende berichteten amerikanische Blätter, dass die NSA mithilfe von U-Booten an die Daten gelangen wollte. So wurde das Atom-U-Boot Jimmy Carter umgerüstet, um Glasfaserkabel aufzuschlitzen und dann abzuhören. Vorher hatten die Dienste auf anderem Weg regelmäßig Seekabel angezapft. Bei früheren Kupferkabeln reichte ein Induktions-Mikrofon, um die Gespräche abzugreifen. Glasfaserkabel hingegen müssen gebogen werden, um die optisch vermittelten Signale auslesen zu können. Am verwundbarsten sind die Kabel freilich an Land.
Was die Briten mit den vielen deutschen Daten machen und gemacht haben, erschließt sich selbst dem BND nicht so ganz. An einem einzigen Tag soll der britische Geheimdienst insgesamt Zugriff auf 21.600 Terabyte gehabt haben. Dank Snowden ist bekannt, dass die abgefangenen Inhalte drei Tage vorgehalten wurden und Benutzerdaten 30 Tage. In der Zwischenzeit wurden die Daten mit speziellen Programmen gefiltert. Selbst dem Briten George Orwell wäre ein solches Überwachungsprogramm im Leben nicht eingefallen.
25. Juni 2013 05:10 Großbritanniens Abhördienst GCHQ
Von John Goetz, Hans Leyendecker und Frederik Obermaier
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