Durch den Sitz der NATO und der EU wurde Brüssel zu einem bedeutenden Schauplatz der Weltpolitik. Die Informationen die in dieser Stadt kursieren sind nicht nur für Frankreich oder Polen von entscheidender Bedeutung, sondern auch für China und den Iran. Die belgische Hauptstadt ist ein europäischer Hotspot für diplomatische Vertretungen, Lobbyorganisationen und Geheimdienste.
„Ich denke man kann mit Sicherheit sagen, dass Brüssel eine der größten Spionagehauptstädte der Welt ist“, so Alain Winants, Leiter des belgischen Sicherheitsdienstes VSSE. Er schätzt die Anzahl der Spione auf „mehrere Hundert“. Oftmals getarnt als Journalisten, Diplomaten, Studenten oder Lobbyisten umfasst ihr Interesse das gesamte politische Themenspektrum, von der Energie- über Handelspolitik bis hin zur Sicherheitspolitik.
Mit den wachsenden sicherheitspolitischen Kompetenzen und Bestrebungen der Europäischen Union, sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas, hat auch die EU mit dem Aufbau von eigenen nachrichtendienstlichen Einheiten begonnen.
Die Gründung der „EU-Intelligence Community“ erfolgte ad-hoc und anlassbezogen. Sie folgte keiner Strategie oder einem kohärenten Konzept in Bezug auf Struktur, Methoden und handelnde Personen. Die Gründungsphase begann 1993 mit Europol. Zwischen 2000 und 2004 wurden dann die vier weiteren nachrichtendienstlichen Einheiten aus der Taufe gehoben. Durch Beschluss, Verordnung oder einer gemeinsamen Aktion des Rates. Niemals hatte dabei das EU-Parlament ein Mitspracherecht.
Einen Sonderfall bildet das Lagezentrum (SitCen), der Vorläufer des Intelligence Directorate (IntDir). Denn die Gründung war lediglich eine Initiative von Javier Solana, dem damaligen Hohen Vertreter der GASP und Generalsekretär des Rates. Es gab keinen Ratsbeschluss. Die Gründung stand damit im Widerspruch mit dem damaligen EU-Vertragsrecht. Denn gemäß Artikel 207 (2) EGV entscheidet der Rat über die Organisation des Generalsekretariats.
Ungenaue Grenzziehung
Eine explizite primärrechtliche Grundlage gibt es nur für Europol. Die Gründung wurde im Vertrag über die Europäische Union von 1992 vereinbart und später durch Beschluss des Rates durchgeführt. Die restlichen nachrichtendienstlichen Einheiten finden keine Erwähnung in den Verträgen. Das gilt auch für die Europäisierung der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit. Lediglich in Art. 73 AEUV heißt es: „Es steht den Mitgliedstaaten frei, untereinander und in eigener Verantwortung Formen der Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den zuständigen Dienststellen ihren für den Schutz der nationalen Sicherheit verantwortlichen Verwaltungen einzurichten, die sie für geeignet halten.“ Es existiert somit eine Kooperation ohne klar festgelegte primärrechtliche Grenzen.
Instabile demokratischer Kontrolle
Schwammig ist auch die demokratische Kontrolle. Von offizieller Seite heißt es, dass keine Geheimdienste im klassischen Sinne auf EU-Ebene existieren, da keine verdeckten Einsätze durchgeführt werden. Außerdem werde nur „Finished Intelligence“ von nationalen Diensten an die EU-Institutionen übermittelt. Zuständig für die parlamentarische Kontrolle seien somit die nationalen Instanzen – nicht das EU-Parlament.
Fakt ist, dass die EU-Einheiten immer eigenständiger Informationen sammeln ¬– etwa über die EU-Delegationen oder das Satellite Center (SatCen). Dass die EU zu 100 Prozent von den Informationen der nationalen Behörden abhängig sei, ist damit ein Trugschluss.
Die EU-Einheiten erfüllen zudem eine ähnliche Funktion wie nationale Nachrichtendienste: Sie sammeln und analysieren Informationen und leiten diese an politsche Entschiedungsträger weiter. Die Tatsache, dass eine Methode (Covert Actions) der Informationsgewinnung nicht unmittelbar angewandt wird, reicht nicht aus um gdie Existenz eines Nachrichtendienstes und damit die Notwendigkeit einer europäischen parlamentarischen Kontrolle zu leugnen. In dubio pro democratia!
Hinzu kommt das demokratische Grundproblem von „International Governance“: Immer komplexere Entscheidungsstrukturen mit diffusen Verantwortlichkeiten treffen weitreichende Entscheidungen sehr weit weg vom Wähler. Eine Kontrolle durch das EU-Parlament ist daher zwingend erforderlich, auf allen Ebenen. Strukturell, bei der parlamentarischen Mitsprache über Mandat und Leitung, also darüber, was ein Nachrichtendienst machen soll und machen darf und wer dafür verantwortlich ist. Finanziell, bei der parlamentarischen Mitsprache über Budget und Budgetkontrolle sowie Personalausstattung. Juristisch, im Bezug auf die Zuständigkeit von Gerichten, Strafverfolgungsbehörden sowie notwendige Beschwerdemechanismen. Und nicht zuletzt in Bezug auf Qualitätskontrolle und Art der Leistung.
Mehr Kontrolle? Knapp gescheitert!
Die parlamentarische Kontrolle der EU-Agenturen Europol und Frontex weist zwar einige Lücken auf, ist jedoch in Summe stabil. Problematischer wird es bei den nachrichtendienstlichen Einheiten im Auswärtigen Dienst (EAD). Unsere Initiative für eine bessere parlamentarische Kontrolle wurde erst kürzlich im Haushaltskontrollausschuss bei Stimmengleichstand knapp abgelehnt. Gefordert hatten wir unter anderem, dass für die vier Einheiten des EAD eine eigene Budgetlinie im Haushalt des EAD eingeführt werden soll. Damit wäre eine konkrete Mitbestimmung und mehr Transparenz möglich geworden. Schließlich ist bisher nicht klar, wie hoch die einzelnen Budgets sind.
Die einzelnen Abteilungen im Überblick
Das Kooperationsnetz, das bisher etabliert wurde, umfasst derzeit vier Abteilungen des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) und zwei EU-Agenturen, Europol und Frontex. Insgesamt 1300 Mitarbeiter sind beschäftig und ein Jahresbudget von 230 Millionen Euro steht zur Verfügung:
Intelligence Analysis Center (IntCen)
Der Vorgänger des IntCen war das Gemeinsame Lagezentrum (SitCen) der Westeuropäischen Union (WEU). Dieses wurde im Jahr 2000 gemeinsam mit dem Militärstab in die EU eingegliedert und ist seit Jänner 2011 Teil des EAD. Sein Budget ist Teil des EAD-Budgets und somit nicht transparent ausgewiesen. Rund 100 Mitarbeiter arbeiten in Brüssel unter der Leitung des Finnen Ilkka Salmi. Überwiegend EU-Beamte und Zweitbedienstete, jedoch auch nationale Nachrichtendienstexperten.
Die priviligierten Mitgliedstaaten Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Schweden, Spanien und Großbritanien entscheiden, welches Land Experten entsenden darf und welches nicht. Die Hauptaufgaben sind die Frühwarnung über externe Bedrohungen und die Risikobewertung für GSVP-Missionen. IntCen ist der Dreh- und Angelpunkt für militärische und zivile nachrichtendienstliche Informationen. Informationen liefern Europol, Frontex, EU-Mission, EU-Delegationen, EU-Sonderbeauftragte, IntDir und viele mehr. Auch nationale Nachrichtendienste liefern auf freiwilliger Basis „Finished Intelligence“. Darüber hinaus reist das Personal selbst in Krisengebiete, zum Beispiel 2011 nach Lybien. Jährlich werden etwa 200 strategische Lagebeurteilungen, Sonderberichte und Briefings ausgearbeitet. Diese Produkte sind klassifiziert bis zur Geheimhaltungsstufe EU TOP SECRET. Darüber hinaus werden Präsentationen und Briefings für Entscheidungsträger angefertigt. Die Produkte werden auch an Europol und Frontex übermittelt.
Satellite Center (SatCen)
Es wurde im Juli 2001 gegründet und hat seinen Sitz in Torrejón de Ardoz in Spanien. Später wurde es in den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) eingegliedert. Rund 108 Mitarbeiter werten bei einem Jahresbudget von rund 17 Millionen Euro nahe Madrid Satellitenbilder und Geodaten aus. Direktor ist seit 2010 der Slovene Tomaž Lovrenčič. Die Rohdaten werden von kommerziellen Partnern wie Indien, Russland oder den USA ankauft oder von den EU-Mitgliedstaaten an das SatCen übermittelt. Damit werden jährlich rund 700 Dienstleistungsprodukte für Entscheidungsträger der Europäischen Union, der EU-Mitgliedstaaten oder auch der UNO und NATO erstellt. Während des „Arabischen Frühlings“ erhielt das SatCen zahlreiche Aufträge von EUFOR Libya und der NATO.
Intelligence Directorate (IntDir)
Die Gründung der IntDir erfolgte 1999, volle Funktionsfähigkeit wurde 2001 erreicht. Die Einheit ist im EU-Militärstab angesiedelt, dem „Working Muscle“ der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Dieser ist ebenfalls nun Teil des EAD. Die Hauptinformationsquellen sind klassifizierte nachrichtendienstliche Produkte, die von den militärischen Nachrichtendiensten der Mitgliedstaaten freiwillig über entsandte nationale Experten in der IntDir zur Verfügung gestellt werden. Die Abteilung unterstützt damit die GSVP bei der Entwicklung von strategischen Leitlinien, der Frühwarnung sowie der Planung und Leitung von GSVP-Mission. Derzeit arbeiten 41 Personen in der Abteilung. Der Chef war bis vor Kurzem Günther Eisl, ein Mitarbeiter des österreichischen Heeresnachrichtenamts. Das Budget ist Teil des EAD-Budgets und somit nicht transparent ausgewiesen.
Situation Room
Der Situation Room wurde mit der Gründung des EAD im Jänner 2011 etabliert. Head of Division ist der Grieche Petros Mavromichalis. Rund 21 Mitarbeiter arbeiten unter seiner Leitung. Das Budget ist Teil des EAD-Budgets und somit nicht transparent ausgewiesen. Der Situation Room ist der erste „Point of Contact“ für alle Informationen zu EU-relevanten Krisen. Die Hauptaufgabe ist das Krisen-Monitoring, 24 Stunden täglich, sieben Tage in der Woche. Die Informationen erhält der Situation Room von den EU-Delegationen, EU-Missionen, EU-Sonderberichterstattern, den Mitgliedstaaten, aber auch von Internationalen Organisationen.
Europol
Die Gründung eines Europäischen Polizeiamts (Europol) wurde 1992 vereinbart. Seit Jänner 2010 ist Europol eine EU-Agentur. Direktor ist seit April 2009 der Waliser Rob Wainwright. Beinahe 800 Personen arbeiten in Den Haag unter seiner Leitung. Rund 85 Millionen Euro beträgt das Jahresbudget. Zu den Aufgaben zählt das Einholen, Speichern, Verarbeiten, Analysieren und Austauschen von Informationen sowie die Koordinierung, Organisation und Durchführung von Ermittlungen und operativen Maßnahmen. Europol analysiert dabei auch personenbezogene Daten, die von nationalen Nachrichtendiensten und Strafverfolgunsbehörden übermittelt werden. Europol verfügt über zwei Datenbanken. Das Europol Information System (EIS) ist für alle nationalen Polizeibehörden zugänglich und enthält Basisangaben über Personen und Gruppierungen. Die Analytical Work Files (AWFs) sind nur für die Europol-Analysten zugänglich und enthalten sensible personenbezogene Daten von verdächtigen Terroristen. Die Produkte werden als „Operative Intelligence“ und „Strategische Intelligence“ an EU-Entscheidungsträger und an jede Organisation übermittelt, die auch Informationen liefert.
Frontex
Die europäische Grenzschutzagentur wurde 2004 gegründet und hat ihren Sitz in Warschau. Unter der Leitung des Finnen Ilkka Laitinen arbeiten 314 Mitarbeiter. 2011 betrug das Budget 118 Millionen Euro. Frontex stellt der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten technische Unterstützung und Fachwissen zum Schutz der Außengrenzen zur Verfügung. Die Kernaufgabe ist die Risikoanalyse, inklusive die Bewertung der Kapazitäten, die den Mitgliedstaaten zur Bewältigung von Gefahren zur Verfügung stehen. Die Informationen stammen direkt von den Grenzübergangsstellen oder auch von den Mitgliedstaaten.
Um die Bereitschaft zur Übermittlung von klassifizierten Informationen mit personenbezogenen Daten zu erhöhen, wurde das sogeannte „Frontex Risk Analysis Network“ (FRAN) eingerichtet. Ein Datennetzwerk, dass Frontex mit den nationlen Nachrichtendiensten und EU-Institutionen verbindet. Auch ähnliche regionale Netzwerke außerhalb der EU werden bereits etabliert. Etwa das „Western Balkans Risk Analysis Network“ (WB RAN). Das Frontex-Lagezentrum ist für das Krisenmonitoring zuständig. Rund 500 Lageberichte werden dort jährlich erstellt und täglich werden Newsletter an rund 350 Empfängerkonten übermittelt. Darüber hinaus erstellt Frontex strategische Bewertungen, Vierteljahresberichte und rund 160 Analyseprodukte zur Unterstützung von gemeinsamen Aktionen.