Mehr als 20 Jahre lang sollen zwei russische Agenten in Deutschland gelebt haben: Sie nannten sich Andreas und Heidrun Anschlag, studierten, arbeiteten, heirateten, bekamen eine Tochter und spitzelten wohl durchweg für Moskau. Wie geht das?
Kann es richtiges Leben geben in einem falschen? Welche Regungen sind echt, welche Entscheidungen aufrichtig, welche Handlungen gehören einem selbst? In dem Moment, als in Saal 18 des Stuttgarter Oberlandesgericht die Geburtsurkunde ihrer Tochter verlesen wird, bricht die Frau, die sich Heidrun Anschlag nennt, in Tränen aus. Sie presst ein Taschentuch vor das Gesicht und schluchzt hinein. Der Mann, den sie vor 22 Jahren im österreichischen Altaussee geheiratet hat und der sich Andreas Anschlag rufen lässt, schaut ausdruckslos ins Leere.
Die Eheleute heißen in Wirklichkeit anders, kolportiert werden die Namen Sascha und Olga, doch bestätigt sind auch die nicht. Festzustehen scheint jedoch, dass die beiden russische Staatsangehörige sind und vor mehr als zwei Jahrzehnten als Spitzel des KGB in die Bundesrepublik entsandt wurden. Später spionierten sie dann wohl für dessen Nachfolgeorganisation SWR, im Herbst 2011 flogen sie auf. Die Bundesanwaltschaft hat die Anschlags daher unter anderem wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit angeklagt, ihnen drohen im Falle einer Verurteilung bis zu zehn Jahre Gefängnis.
Mit Handschellen gefesselt wird Andreas Anschlag in den Raum geführt. Die Haare des mutmaßlichen Agenten sind kurz und grau, sein Gesicht ist fahl. Den offenkundig falschen österreichischen Personalpapieren zufolge ist der Mann 1,80 Meter groß, 53 Jahre alt und wurde im argentinischen Valentin Alsina geboren. Anschlag trägt einen schwarzen Pullunder, ein schwarzes Hemd und Jeans.
Auch seine Frau ist eine unauffällige Person, 1,60 Meter groß, blonde Haare, orangefarbener Pullover zu hellblauer Jeans. Ihre Legende besagt, sie sei im peruanischen Lima geboren und inzwischen 47 Jahre alt. Während ihr Mann in Aachen Maschinenbau studierte und später als Diplomingenieur bei verschiedenen Automobilzulieferern arbeitete, war Heidrun Anschlag nach außen vor allem Hausfrau. Sie kümmerte sich um die gemeinsame Tochter.
Im Unterschied zu Spionen, die als Diplomaten in ihre Einsatzgebiete reisen, arbeiten mutmaßliche Agenten wie Heidrun und Andreas Anschlag nicht im Schutz der Botschaften. Diplomaten droht im schlimmsten Fall die Ausweisung – allen anderen eine langjährige Haftstrafe. Aufgrund des hohen Risikos werden sie in russischen Geheimdienstkreisen als “Wunderkinder” verehrt. Einem Staatsschützer zufolge ist mit weiteren Spähern in Deutschland zu rechnen.
Die Bundesanwälte werfen den Eheleuten vor, sie seien “hauptamtliche Mitarbeiter des russischen Auslandsnachrichtendienstes SWR”. Demnach stehe Andreas Anschlag im Rang eines Abteilungsleiters und beziehe monatlich 4300 Euro, seine Gattin sei stellvertretende Abteilungsleiterin und erhalte 4000 Euro – die Ersparnisse der Eheleute sollen sich auf etwa 600.000 Euro belaufen. Das “Ausforschungsinteresse” der Agenten mit den Decknamen “Pit” und “Tina” habe sich auf “politische, militärische und militärpolitische Aufklärungsziele” konzentriert, heißt es in der Anklageschrift. Vor allem sei es den beiden um Informationen aus Nato- und EU-Kreisen gegangen.
Botschaften in “toten Briefkästen”
Zu diesem Zweck führten die Anschlags laut Bundesanwaltschaft von Oktober 2008 bis kurz vor ihrer Festnahme im Herbst 2011 den niederländischen Diplomaten Raymond P. als Quelle. Der Beamte des Den Haager Außenministeriums, Deckname “BR”, soll in dieser Zeit mehrere hundert vertrauliche Dokumente geliefert haben und dafür mit mindestens 72.200 Euro entlohnt worden sein. Die Übergabe der Papiere erfolgte zumeist in den Niederlanden, danach deponierte Andreas Anschlag die Akten in “toten Briefkästen” im Raum Bonn, wo sie anschließend von Mitarbeitern der russischen Botschaft abgeholt wurden.
Laut Anklage handelte es sich dabei unter anderem um
einen Sitzungsbericht des Nordatlantikrates zur Zusammenarbeit der Nato mit Russland im Bereich der Raketenabwehr,
Dokumente zur Strukturreform der Nato,
Papiere zur Nato-Strategie während der Revolution in Libyen,
Berichte über den Isaf-Einsatz in Afghanistan.
Darüber hinaus besuchte Andreas Anschlag der Bundesanwaltschaft zufolge über Jahre Tagungen der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, der Clausewitz-Gesellschaft, der Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik sowie der Friedrich-Naumann-Stiftung, über die er Moskau fortlaufend Bericht erstattete. Zudem wies er seine Geheimdienstkollegen auf mögliche Informanten hin, die er bei den Veranstaltungen kennenlernte. Auch seine Arbeitgeber spähte er laut Anklage nach “wissenschaftlich-technischen Informationen” aus.
Für die Kommunikation mit der Zentrale soll vor allem Heidrun Anschlag zuständig gewesen sein, so die Bundesanwälte: Sie war es, die in ihrem angemieteten, 200 Quadratmeter großen Haus im hessischen Marburg geheime Direktiven aus Moskau erhielt. Dazu nutzte sie einen Kurzwellenempfänger, der mit einem Decoder und einem Computer verbunden war. Die Rückmeldungen erfolgten über Textnachrichten, die per Satellit verschickt wurden. Auch mittels YouTube tauschte sich Heidrun Anschlag als “Alpenkuh1” mit ihren russischen Kollegen aus. Dazu nutzten die Geheimdienstler offenbar codierte Kommentare.
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15. Januar 2013, 15:44 Uhr
Von Jörg Diehl, Stuttgart
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